Kapitel 8 -LEICHT-Athletik-

06.05.2015 15:31

Freitag, 1. Mai 2015

   Wassergymnastik statt Tanz in den Mai, kleiner Spaziergang mit Mann und Hund im Park statt Mai-Kundgebung, so sieht es aus.

   Es gibt inzwischen sehr viele Veranstaltungen, die ich nicht mehr besuche, weil es dort voraussichtlich keine Sitzgelegenheiten gibt. Das ist frustrierend, aber die Aussicht, auf eine erhebliche Gewichtsreduktion verhindert, dass ich verzweifle. Und diese Aussicht hilft mir auch dabei, trotz Schmerzen in den Gelenken des Bewegungsapparates weiter zu machen mit den sportlichen  Aktivitäten. Ja, und es macht mir wirklich Spaß, wie gestern beim Aquafit, mit meinem Freund und Kollegen Matthias. Zirkeltraining stand auf dem Plan. Ich liebe Zirkeltraining, man macht lauter verschiedene Übungen, jeweils zwei ähnliche Übungen an den einzelnen Stationen, und immer auf Kommando geht es weiter. Das war schon zu Zeiten des Schulsports eine prima Sache für mich, im Gegensatz zu anderen Zumutungen wie etwa Geräteturnen, 100-Meter-Lauf oder gar 1000-Meter-Lauf.

   In besonders gruseliger Erinnerung habe ich Frau Grunenberg, die selbst eine kleine, knubbelige Person war, vom Alter her irgendwas Undefinierbares über vierzig, und der festen Überzeugung, dass ich alles können müsste, was alle anderen auch konnten. Ich hatte den Verdacht, dass sie ihre ersten sportlichen Meriten beim BDM errungen haben musste, Adolfs Bund deutscher Mädel.
 
   Meine Sportnoten bewegten sich zumeist zwischen ausreichend und mangelhaft. Und dann diese fürchterlichen Bundesjugendspiele! Ja, Herrgott nochmal, es heißt LEICHT-Athletik! Die einzigen Disziplinen, bei denen ich nicht völlig versagte, waren Kugelstossen und Diskuswerfen, ich kam mir vor wie so eine bärtige Russin, die ihre Männer erst schält und dann verspeist.

   Die Grunenberg hat mich auch am Stufenbarren drangsaliert mit der Hockwende über den oberen Holm. Der wurde erst ganz tief eingestellt und dann immer ein Stück höher, ich hatte unglaublich große Angst, war den Tränen nahe, aber die Grunenberg ließ mich nicht anders runter vom Gerät als mit besagter Hockwende. Die Hockwende an sich war weniger das Problem, aber die Höhe! Da ging´s ja fast zwei Meter runter, und dann sollte ich noch elegant landen. Nachdem ich mir schließlich meinen rechten Zeigezeh gebrochen hatte, ließ das Monster von mir ab.

   Meine Qualen nahmen ein Ende, als ich vom Gymnasium auf die Realschule wechseln musste. Irgendwie hatte ich den vierten Schulwechsel innerhalb von sechs Jahren, inklusive Kurzschuljahre, nicht mehr kompensieren können, war zweimal sitzengeblieben und bis auf meine Biologielehrerin waren die anderen Pauker ganz froh, dieses Scheidungskind endlich los zu sein.

   Meine Mutter belegte mich mit einem halben Jahr Stubenarrest wegen meiner Faulheit und verbot mir den Kontakt mit meiner Clique, um deren schlechten Einfluss auf mich zu unterbinden. Die schlechte Ernährungslage änderte sich nicht.

   Ich begann meine fünfte Schulkarriere mit einer leichten Verspätung, wahrscheinlich wegen der Orientierung im neuen Gebäude und klopfte gottergeben an die Tür der Klasse 9b. Harald Rose, zwei Köpfe kleiner als ich, öffnete mir und erschrak sichtlich bei meinem Anblick. Lange Haare, Mittelscheitel, Jeans, Fransen-Boots und Bundeswehrparka, so blickte ich gelassen auf meinen zukünftigen Mitschüler herab und betrat die Klasse mit den Worten: „Ist das hier die 9b? Ich heiße Marion Schulten und soll hier hin.“

   Frau Schmidt, die Klassenlehrerin musterte mich leicht amüsiert und wies mir einen Platz zu, neben Sonni Sonnenberg, ebenfalls neu, ebenfalls Parka.

   Ich war nun gerade mal 16, maß 1,78 und war nicht zierlich. Die neuen Klassenkameraden und -kameradinnen waren zwei Jahre jünger, trugen Ringelpullis und Cordhosen, bzw. Cordröckchen und bestaunten mich wie ein Alien.

   Ich schrieb damals in mein Tagebuch: „Oh Gott, meine neue Klasse ist ein Kindergarten. Wie soll ich das aushalten?“

   Abgehärtet durch meine diversen Schulwechsel und mit dem festen Entschluss, eine erfolgreiche Schülerin zu werden, legte ich eine wahre Blitzkarriere hin, wurde dank meiner grossen Klappe nach einem Halbjahr Klassensprecherin, dann Schülersprecherin, belegte Tennis, Volleyball und Standard-Formationstanz als Sport AG, wurde Mitglied des Schulchors und mit meinem Akkordeon, das meine Oma mir geschenkt hatte, auch bald Mitglied des Schulorchesters. Ich machte meinen Abschluss mit 1,9.

   Durch die Teilnahme an diesen vielen AGs konnte ich den Stubenarrest weitestgehend ausser Kraft setzen. Ich hatte mich als grosses, dickes Mädchen in der Hackordnung ganz nach vorne gebracht, mich quasi unangreifbar gemacht ...

   Und hatte natürlich keinen festen Freund.